Während die ‘Orion’ sicher auf dem Boatyard von Astypalaia steht, legen wir einen Zwischenstopp in Athen ein – das bietet sich an, denn egal ob man die Insel mit dem Flugzeug oder mit der Fähre verlässt, in Athen muss man immer umsteigen. Wir entscheiden uns für den einstündigen Flug mit der Propellermaschine – eine problemlose Art zu reisen, wenn nicht gerade mal wieder eine Herde Ziegen die Startbahn von Astypalaia blockiert …
Mit gut drei Millionen Einwohnern im Stadtgebiet und vier bis fünf Millionen im gesamten Ballungsraum (so genau weiß man das nicht, da es keine Meldepflicht gibt) ist die griechische Hauptstadt gewaltig groß – fast die Hälfte der Landesbevölkerung lebt hier!
Erwartet haben wir daher eine lärmende, abgasverseuchte Betonwüste – doch schon auf den ersten Blick überrascht uns die Stadt: zwar sind eine Unmenge Menschen in der U-Bahn und auf den Straßen unterwegs, aber das Treiben wirkt eher lebendig als hektisch, und die Häuser wachsen nicht so hoch in den Himmel wie in vielen anderen Großstädten. Das mag an der langen Entwicklungsgeschichte liegen: seit 7500 Jahren leben hier kontinuierlich Menschen, womit Athen eine der ältesten Siedlungen Europas ist, und diese sehr langsam gewachsene Struktur spürt man; Hochhäuser zu bauen ist ohnehin verboten, da diese das historische Stadtbild zerstören würden – sehr weise!
Auch trägt durchaus positiv zum Eindruck bei, dass Griechenland seit langer Zeit eher nicht im Reichtum lebt – das hat der Stadt die charakterlosen Glasfassaden der Büro- und Verwaltungsgebäude der nordwesteuropäischen Großstädte erspart. Natürlich gibt es auch die Kehrseite: etliche Gebäude sind bis zur Unbewohnbarkeit verfallen, was aber irgendwie ins Stadtbild passt, denn dieses ist natürlich ohnehin von Ruinen durchzogen – nirgendwo kann man eine Baggerschaufel ansetzen, ohne auf jahrtausendealte Überreste zu stoßen. Viele davon hat man freigelegt und restauriert, so dass sich überall im Stadtgebiet Freiflächen mit Säulenreihen und Tempelfundamenten finden.
Über all dem wacht die antike Stadtfestung, die Akropolis – welche trotz der starken Zerstörung während der Belagerung durch die Venezianer 1687 einen eindrucksvollen Anblick bietet.
Die Akropolis ist natürlich auch das touristische Ziel Nr. 1 in Athen; allerdings ist der Vormittag des 10. Dezember ausnahmsweise (Athen zählt 348 Sonnentage!) mal völlig verregnet, so dass wir beschließen, statt dessen lieber das Archäologische Nationalmuseum zu besuchen.
Die 11.000 Exponate umfassende Sammlung anzuschauen ist mehr als tagesfüllend: man findet nicht nur die zu erwartenden Statuen aus der hellenistischen Epoche, sondern auch interessante Stücke aus prähistorischer Zeit, welche belegen, wie weit fortgeschritten Kunsthandwerk und Kultur schon in der Zeit vor aller Geschichtsschreibung waren.
Wirklich beeindruckend sind die Details der Marmor- und Bronzearbeiten aus der Blütezeit der altgriechischen Kultur: schaut man sich die Naturtreue der Körperformen und die Lebendigkeit der Bewegungsdynamik an, so wird klar, dass die großen Künstler der Renaissance wenig neu erfunden, sondern vielmehr jahrtausendelang verschüttetes Können wiederentdeckt haben. Manche Werke gehen sogar schon über das Ziel einer möglichst naturalistischen Wiedergabe hinaus und zeigen abstrakte Elemente, wie im Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts.
Man muss kein großer Kunstliebhaber sein, um sich vom direkten, unmittelbaren Kontakt mit dem, was ganz offensichtlich die Grundlage unserer abendländischen Kultur ist, berühren zu lassen – damit hat alles angefangen, was uns heute umtreibt.
Neben den Wundern der Kunst beherbergt das Museum auch eine naturwissenschaftlich-technische Sensation: den Mechanismus von Antikythera, 1900 in einem Schiffswrack entdeckt; dabei handelt es sich um einen aus Zahnrädern gebauten Analogrechner zur Darstellung astronomischer Größen.
Bis zu diesem Fund war man der Ansicht, die bekannten Erkenntnisse der alten Griechen in Mathematik und Astronomie seien eher philosophischer Natur gewesen, aber bis zur Renaissance nie in konkrete Technologie umgesetzt worden – und dann findet man diesen Mechanismus, welcher aus unzähligen Zahnrädern und anderen feinmechanischen Teilen besteht, darunter fortgeschrittene Mechanismen wie Umlaufrädergetriebe und Kurbelschleifen, mit dem selbst die Mondanomalien korrekt wiedergegeben werden können! Unglaublich, was man alles schon einmal gekonnt – und wieder vergessen hat …
Im Februar kehren wir nach Griechenland zurück und planen wieder einen Aufenthalt in Athen ein – nicht nur dass wir dieses Mal die Akropolis anschauen wollen, die Stadt hat uns auch einfach gut gefallen. Das Wetter ist schon frühlingshaft mild, und in der Altstadt Athens brodelt das Leben: alle Cafés und Kneipen sind bis auf den letzten Platz besetzt, und die Straßen voller Menschen. Nach der coronabedingten Weltuntergangsstimmung in Deutschland tut es schon unbeschreiblich gut, diesen Ausdruck nicht zu unterdrückender Lebendigkeit zu erleben!
Auch auf der Akropolis ist einiges los, dem Vernehmen nach aber ist das nichts gegen die Menschenmassen, die sich im Sommer täglich durch das Gelände wälzen – gut, dass wir nicht in der Saison hier sind! Der gut 150 Meter hohe, plateauförmige Berg beherbergt die ältesten Teile Athens; nach der Zerstörung durch die Perser wurde das Areal unter Perikles, einem der gewählten (!) Oberhäupter der Athener, in der Zeit zwischen 467 v. Chr. und 406 v. Chr. neu bebaut.
Das bekannteste und herausragendste Bauwerk ist wohl der Parthenon-Tempel, welcher der Stadtgöttin Athene gewidmet war und ein 11 Meter hohes Standbild der Göttin, bestehend aus Elfenbein und Gold (über eine Tonne!), beherbergte (von dem nur kleine Nachbildungen die Jahrtausende überdauert haben). Sowohl die Architektur als auch die künstlerische Bauausschmückung sind einzigartig, was selbst aus den Resten, welche die bereits erwähnte Zerstörung durch die Venezianer 1687 sowie den dreisten Kunstraub durch Lord Elgin Anfang des 19. Jahrhunderts überlebt haben, noch zu ersehen ist.
Bei einem Gebäude dieses Ausmaßes (ca. 30 x 70 Meter Grundfläche, knapp 14 Meter Höhe) spielen für die möglichst harmonische Wahrnehmung perspektivische Effekte eine große Rolle. Tatsächlich ist praktisch nichts an dem Gebäude gerade oder gleichmäßig: die Grundlinien sind konkav, die Säulen kippen nach innen und sind je nach Position im Gebäude unterschiedlich geformt. In der Summe aber sieht unser Auge nur eines: Harmonie und Perfektion – nicht ohne Grund gilt der Parthenon als eines der bedeutendsten Bauwerke der Welt. Wer’s nicht glaubt, schaue sich im Vergleich Kopien wie z.B. die Walhalla in Regensburg an – größer, aber unausgewogener, weil man von den Feinheiten des Originals 1842 noch nichts (bzw. nichts mehr) wusste.
Auch die anderen erhaltenen Bauwerke sind beeindruckend und haben den Maßstab für abendländische Architektur definiert, so etwa die Propyläen, die Torhallen im Zugang zum Tempelbezirk (kopiert z.B. im Brandenburger Tor), das Erechtheion mit seinen großartigen Karyatiden oder der Niketempel.
An den Hängen der Akropolis liegt das rund 17.000 Zuschauern Platz bietende Dionysostheater – nicht irgendein weiteres antikes Theater, sondern das Theater überhaupt: hier wurden die berühmten klassischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides uraufgeführt, und es gilt als die Geburtsstätte des klassischen Dramas – und damit richtungsweisend für unsere gesamte Literatur.
Nach so viel bedeutungsschwerer Geschichte verbringen wir den Rest des Tages mit Spaziergängen durch die Stadt, wobei selbstverständlich kulinarische Aspekte nicht fehlen dürfen – das Preisniveau ist in Athen etwas höher als in der griechischen Provinz, aber für deutsche Verhältnisse immer noch äußerst moderat, und die Auswahl und Qualität lassen wirklich keine Wünsche offen.
Am Sonntag fahren wir mit der U-Bahn nach Piräus, wo sich seit seit dem Altertum der Hafen Athens befindet; von hier steuern regelmäßige Fähren die ganze ägäische Inselwelt an, und eine davon bringt uns in rund achtstündiger Fahrt zurück nach Astypalaia.